Urlaubsgenüsse
(aus: 'Das Lächeln am Ende des Tages')

Das Apartment lag im 1. Stock und hatte einen großen Balkon mit Meerblick – von links nach rechts und bis zum Horizont Adria pur – eine glitzernde hellblaue Haut. Und wir hatten dieses Apartment mitten im August, mitten in der Hochsaison ergattert, ohne Reservierung und zu einem günstigen Preis! Und das Ganze war auch noch völlig ruhig gelegen! Alle, wirklich all unsere Freunde – also Henriette und Klaus – hatten davon abgeraten, auf gut Glück und ohne Buchung an die kroatische Adria zu reisen, besonders in die Gegend von Rijeka, nahe der italienischen Grenze. Aber Elvira und ich ließen uns nicht entmutigen, wir vertrauten dem Schicksal, das uns wenigstens im Urlaub immer wohlgesonnen war – sieht man von Elviras Blutvergiftung in Portugal ab. Gut, es gab noch den Totalschaden an unserem VW-Bus im Schwedenurlaub, 1998, aber wer redet heute noch davon!? Der Bus war ohnehin viel zu sperrig für den Stadtverkehr. Seit 1998 sind wir mit unserem schwarzen Astra Kombi unterwegs – dem alten Schlachtross: es keucht oft, ist aber total verlässlich, besonders nachdem vorletztes Jahr in Italien das Getriebe ausgetauscht wurde.
Das Apartment war wahrscheinlich deshalb günstig, weil es etwas außerhalb der Ortschaft lag – an einem kahlen Berghang, der über einen Geröllweg nur im ersten Gang zu bewältigen war. Der Vorteil: das Apartment befand sich im einzig fertiggestellten Gebäude der geplanten Siedlung. Die übrigen, etwa zehn zweistöckigen Rohbauten waren Insolvenzmasse und unbewohnt. Das betonte Frau Vucovic, die wir auf der Suche nach einer Unterkunft vor der Agentur Adria-Paradise in Novi Sikorsky angetroffen hatten. Sie war sofort bereit, auf ihrem flotten Roller vorzufahren und uns in die Abgeschiedenheit zu lotsen. „Alles Baustopp, keine Bauarbeiten“, versicherte sie auf meine Frage und fügte schmunzelnd hinzu: „Sie wohnen hier oben ganz, ganz alleine – die Räume im Parterre sind noch nicht vermietet!“
„Wow – was für ein Glück!“, sagte ich augenzwinkernd zu Elvira, „kein Straßenlärm, kein lauter Fernseher nebenan, keine besoffenen Nachbarn – du kannst sogar auf deine Ohrstöpsel verzichten!“
„Kann ich nicht!“, antwortete Elvira spitz.
„Wieso?“
„Weil du auch im Urlaub schnarchst!“

Im Anschluss an die Wohnungsbesichtigung zahlten wir Frau Vucovic die 700 Euro in bar, eine Quittung wollte sie uns im Lauf der nächsten zwei Wochen vorbeibringen. Sie verabschiedete sich herzlich und wir holten unser Gepäck aus dem Wagen. Zuletzt schnallten wir die Latexmatratze vom Dachgepäckträger, mit der wir die Druckspuren der kroatischen Stahl-Federkern-Matratzen vermeiden konnten. Durch sie wurde vor ein paar Jahren unser Urlaubsgenuss in einer Pension nahe der Plitvicer Seen deutlich geschmälert.
Nachdem alles eingeräumt war, gingen wir auf die Terrasse und genossen still das wunderbare Panorama. Genau danach sehnten wir uns – endlich Ruhe und Entspannung, denn wir hatten einige bittere Gerichtsverhandlungen mit unserem Vermieter hinter … und nun den baldigen Auszug vor uns.
„Das Idyll müssen wir mit einem Gläschen feiern“, sagte ich und nahm meine Frau in den Arm. Sie stimmte zu und alles fühlte sich gut an.

Eine Stunde später, während Elvira das Bett bezog und zu kochen begann, fuhr ich langsam die fünf Kilometer nach Novi Sikorsky zurück und besorgte den Wein, Obst, Eier und frisches Brot – in einem Lidlmarkt am Ortsrand. Bedauerlicherweise erschien ich zu spät zum Essen. Elvira saß mit verschränkten Armen am Tisch, der mit Deckchen, Servietten und Kerzen geschmückt war, und fragte mürrisch:
„Warste in Italien einkaufen oder hast du ’n Baumarkt entdeckt?“
Wortlos zeigte ich ihr meine schmutzigen Hände.
„Also Baumarkt!“
„Quatsch!“, sagte ich, „ich musste das linke Vorderrad wechseln, weil es auf dem Geröllweg von einem Stein aufgeschlitzt wurde!“
„Wenn uns das jetzt jedes Mal passiert, kann das ein reizvoller Urlaub werden!“, antwortete sie und holte die beiden aufgewärmten Spaghetti-Carbonara-Portionen aus der Mikrowelle. Elviras Stimmung wurde zusätzlich gereizt, denn beim schweigsamen Essen fiel ihr auf, dass rings um uns plötzlich ein Schnarren entstanden war, das lauter wurde und bald 1000 röchelnden Kaffeemaschinen ähnelte, aber offensichtlich eine Massenversammlung von Zikaden war.
„Mein Gott!“, beschwerte sie sich, „weit und breit nur verdorrte Sträucher, wieso halten sich die Viecher denn ausgerechnet hier auf?“
‚Weil’s hier genug Wohnraum gibt‘, wollte ich sagen, schwieg aber, zuckte mit der Schulter und trank einen Schluck Wein.
Vor uns am Horizont versank die Sonne allmählich tiefrot über dem Meer und bot ein Schauspiel der ganz besonderen Art. Gleichzeitig verstärkte sich das Schnarren der Zikaden, sodass Elvira plötzlich rief: „Verdammte Scheiße, das ist ja nicht mehr auszuhalten!“
Mir war bis dahin Elviras Zikadengeräuschallergie noch gar nicht aufgefallen, ich musste aber zugeben, dass die Tiere ihre Klangarbeit beharrlich steigerten – und nach Sonnenuntergang hörte sich das Ganze an, als wären sämtliche Zikaden Südeuropas, Nordafrikas und des mittleren Orients hier, vor unserem Balkon, zum Gruppensex verabredet.
„Ich hab genug gehört, ich geh ins Bett“, sagte Elvira auf einmal und ließ mich allein zurück, inmitten unzähliger tierischer Höhepunkte.
Es war nicht verwunderlich, dass ich sie im Bett im verstöpselten Zustand antraf – wie eine bunte Geschwulst thronten die Schaumstoffpfropfen inmitten ihrer zierlichen Ohrmuschel. Der Impuls, diese Fremdkörper zärtlich zu entfernen und die Region ein wenig zu beknabbern, verschwand jedoch bei dem Gedanken an ihre abendliche Laune. Ich legte mich also behutsam neben Elvira, genoss den Komfort der Latexmatratze und meditierte in die raue Melodie ihres Schnarchens.
Meinen Kampf gegen ihre Verstöpselungssucht habe ich übrigens im vergangenen Jahr verloren: Da hatte ich darauf hingewiesen, dass ich ihr – so abgeschottet – vor dem Einschlafen keine süßen Worte mehr ins Ohr flüstern konnte. Worte, die bei ihr früher ein Kribbeln ausgelöst hatten – und manchmal noch mehr … Natürlich hatte sie damals sofort gekontert: „Und, wann haste das letzte Mal so süß geflüstert?“
Auf solche vorwurfsvollen Zeitfragen, das weiß ich seit langem, gibt es nur eine angemessene Antwort: „Neulich erst!“
„Neulich ist zehn Monate her“, hatte sie entgegnet, „das war an deinem Geburtstag, als ich dir die Schlagbohrmaschine von Bosch geschenkt habe!“ Dann hatte sie die Schaumstoffkegel in die Ohren gepresst und gesagt: „Geh zum Arzt, lass dich...“ – sie imitierte ein lautes Schnarchgeräusch – „untersuchen und wir verhandeln neu!“ Das war eine extrem unfaire Forderung, denn schon seit unserer allerersten Begegnung weiß Elvira, dass bei mir zwei Dinge einen Herzstillstand auslösen können: Pichelsteiner Eintopf und Arztbesuche.

Erstaunlicherweise weckte mich am nächsten Morgen kein Zikadengebrüll. Es war eher ein gleichmäßiges dröhnendes Tuckern, das nicht nur die Fensterscheiben zum Vibrieren brachte, sondern auch mein Gedärm. Ich schwang mich wütend aus dem Bett und sah, auf die Fensterbank gestützt, ein Ungetüm von Traktor neben dem Haus. Mit einer herabgelassenen Egge, die halb so groß war wie ein Schrebergarten, versuchte der Fahrer gerade den felsigen Boden zu lockern und die Steine herauszureißen. Immer wieder kratzte die Egge über das Gestein, sodass sich dem Tuckern nun auch schrille Töne anschlossen, die permanentes Schaudern und Gänsehaut auslösten.
„Bleib du liegen, ich regel das schon!“, sagte ich beruhigend zu Elvira.
„Is was?“, antwortete sie und befreite sich von ihren Stöpseln.
Da ich mich mit dem Fahrer nicht verständigen konnte und die Dauer seines Einsatzes unbekannt blieb, frühstückten wir nicht gemütlich auf unserer Meerblickterrasse, sondern fuhren erfolgreich den Hügel hinab, nach Novi Sikorsky.
Gesättigt standen wir um 10 Uhr vor der Agentur Adria-Paradise, um uns wegen der frühen Lärmbelästigung zu beschweren. Leider war Frau Vucovic nicht anwesend und die Agentur verschlossen. Nach einer halben Stunde Wartezeit zerrte Elvira plötzlich das Badetuch aus dem Astra, wickelte es um ihre schlanke Taille, drückte mir die Badematte in die Hand und befahl: „Kommste mit? Ich geh ans Meer!“
Weil ich ein Mann bin, der einer höflichen Bitte nicht widerstehen kann, näherten wir uns bald gemeinsam einem Sandflecken, der laut Baedecker ein malerischer Strand sein sollte – von Weitem aber sah es aus, als hätte man hier alle Urlauber wie Spritzgebackenes zu eng auf einem Kuchenblech ausgelegt. Weil das Ganze auch eine unsichtbare Wolke von Gebrüll, Geschrei und Musik aussonderte, zogen wir schnell weiter. Nach einer Stunde – wir hatten Novi Sikorsky bereits weit hinter uns gelassen, ohne ein ruhiges Plätzchen zu finden – sehnte ich mich nach unserer Terrasse … einer Brotzeit … einem Bierchen … dem Blick in die Weite, doch Elvira beharrte: „Zick nich rum, ich will im Meer schwimmen, nich aufs Meer glotzen, sonst könnt ich auch vor ’ner Fototapete Urlaub machen.“
„Aber meine Knochen und Füße tun weh!“, antwortete ich sachlich.
„Dafür gibts ’ne eine einfache Erklärung: Du treibst zu wenig Sport – schau dich nur an!“
Natürlich fixierte sie wieder meinen Bauch.
„Das ist hauptsächlich genetisch bedingt“, antwortete ich. „Außerdem bin ich doch seit zwei Jahren im Sportverein!“
„Ja, wegen Minigolf – das durch seine Bewegungsintensität berauscht!“
Weil es sehr schwierig ist, mit sportbegabten Menschen über Bewegung zu diskutieren, seufzte ich nur.

Einen Kilometer später entdeckten wir das Restaurant twelve monkeys, eine Sperrholzhütte mit vorgelagertem Tischgrill – einfach, aber direkt am Wasser gelegen und wegen der Zivilisationsferne oder der hohen Getränkepreise dürftig besucht.
„Wunderbar, hier bleiben wir“, sagte ich glücklich, setzte mich, bestellte ein Bier, ein Sandwich ‚Monkeys Extra‘, hob meine wundgelaufenen Füße auf einen Sessel und genoss die Weite. Da fragte Elvira:
„Ich geh jetzt ins Wasser, du auch?“
„Nee“, antwortete ich.
„Wär ja auch zu viel Bewegung für’n Minigolfer!“, sagte sie schnippisch und stand auf.
„Im Gegensatz zu dir fühl ich mich in meinem Leben auch ohne Halbmarathon wohl!“, antwortete ich gelassen und biss in mein Sandwich Extra, eine originelle Klebemasse und hochgradige Plombengefahr. Gerade als ich den letzten Happen mit einem Bier heruntergespült hatte und mich gemütlich in den Sessel schmiegen wollte, hörte ich einen entsetzlichen Schrei.

Die 17 Seeigel-Stacheln hatte die Ärztin des Hospitals in Rijeka mit großer Geduld aus Elviras rechter Fußsohle gezogen, dann die Wunde desinfiziert und verbunden. Ein Taxi brachte uns abends zurück zum Opel Astra, und weil das Büro von Adria-Paradise wieder – oder noch immer – geschlossen war, fuhren wir zurück zu unserem Apartment.
Der Vorteil: Der Traktor war verschwunden und Elvira war nach der Spritze, die eine verschwenderische Schmerzmittel-Dosis enthielt, unglaublich gut gelaunt. Lachend saßen wir auf der Terrasse, und weil ich ihrem Wunsch nach einer Flasche Wein nicht widersprechen wollte, freuten wir uns bald ziemlich betrunken und genussbereit auf den Sonnenuntergang. Allein, das noch immer anwesende Zikadengeschwader wollte weder freiwillig stillhalten, noch gehorchte es Elvira, die angetrunken ständig in die Dunkelheit brüllte: „Haltet euer Maul, ihr Arschlöcher!“ Dann lachte sie mich an und sagte: „Komm, lass uns was Romantisches tun!“ Ich lächelte zurück und dachte: ‚Endlich – jetzt beginnt Urlaub!’
Es gab von jeher unterschiedliche Romantikauffassungen zwischen Elvira und mir: ich finde das bisweilen lästig, Elvira meint dagegen, dies hielte unsere Ehe lebendig. Also gingen wir nicht ins Bett, sondern für ein romantisches Lagerfeuer ins Freie, wozu ich meine humpelnde Gattin stützen musste. Sie hockte sich in die Nähe des Hauses auf die Erde und begann sofort Karnevalslieder zu schmettern, während ich im Licht meiner Taschenlampe erfolgreich nach Holz suchte, denn die verlassenen Bauruinen erwiesen sich als eine gute Fundgrube für Brennstoffe. Im Nu hatte ich Elviras Wunsch erfüllt und mit etwas Gebälk und Schalenholz ein phantastisches Lagerfeuer entfacht, das durch sein Prasseln auch die Zikadengeräusche übertönte. Dieser Zustand stellte Elvira nach unserer dritten Flasche Wein endgültig so zufrieden, dass sie mich mit Dauerknutschen belohnte.
Der Nachteil: Wir bemerkten kaum die klimatische Veränderung um uns herum, denn kurz nach Sonnenuntergang hatte sich Bora, der berüchtigte Mittelmeerwind, mit einer ersten kräftigen Brise gemeldet. Aber erst als sich ein ziemlich rauchiges Bukett zwischen unsere leidenschaftlichen Küsse mischte, hielten wir inne und registrierten, dass sich das Lagerfeuer – von Bora rücksichtslos angetrieben – deutlich ausgebreitet hatte: Ringsum standen Sträucher und trockenes Gebüsch in Flammen, die unbeirrt dem nächstliegenden Rohbau entgegenzüngelten. Intuitiv wusste ich, dass in diesem Stadium Löschversuche mit einer humpelnden Ehefrau am Arm vergeblich waren. Ich griff deshalb geistesgegenwärtig zum Handy, wählte 112, dann hörte ich die kroatische Zeitansage.

Wir vermuten, dass Bewohner Novi Sikorskis die zum Himmel schlagenden Flammen bemerkt hatten und die Feuerwehr benachrichtigten. Glücklicherweise war nach den mehrstündigen Löscharbeiten das Apartmenthaus nur eingeschwärzt, die zwei angrenzenden Bauruinen waren allerdings in sich zusammengefallen. Wir wurden wegen schwerer Brandstiftung und auch wegen Einbruchs verhaftet, weil die örtliche Polizei feststellte, dass eine Frau Vucovic bei Adria-Paradise unbekannt war und wir das Apartment widerrechtlich bewohnten. Der Vorteil: Elviras Kommunikationstalent und ihr Augenaufschlag konnten die Polizisten überzeugen, dass wir einer Betrügerin aufgesessen waren. Ich wiederum konnte mit mimischen Mitteln demonstrieren, dass die humpelnde Elvira an allem unschuldig und ich allein der Feuerteufel war.

Wenn mir tagsüber langweilig ist, schaue ich durch die Gitter auf das Meer oder spiele Skat mit meinen Zellengenossen Tristan, einem albanischen Schmuggler, und Nico, einem freundlichen Bankräuber aus Dubróvnik. Die Winterzeit im Zentralgefängnis von Rijeka habe ich genutzt und eine kleine Minigolfanlage für den Gefängnishof entworfen. In der kommenden Woche werden wir die Anlage in Eigenarbeit errichten, und zur Einweihung dürfen wir den Gouverneur und auch Elvira erwarten.
Ich kann nicht eindeutig sagen, ob ich bei Wahlfreiheit die nervige Wohnungssuche, die stressigen Besichtigungen, die vielen Maklergespräche, den hektischen Umzug und den scheußlichen deutschen Winter wirklich meinem entspannten und kreativen Gefängnisaufenthalt vorgezogen hätte.
Ich kann nur eindeutig sagen, dass mir die bequeme Latexmatratze und vor allem die raue Melodie von Elviras Schnarchen fehlt.
Ehrlich!

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