Morgenland

Das große Holztor quietschte beim Öffnen, und schon in der Toreinfahrt wehte mir der modrige Atem des Hinterhofes entgegen. Der klobige Lichtschalter hing an einem herausgerissenen Kabelstück und war defekt. Vorsichtig ging ich durch das Halbdunkel, vorbei an den zerbeulten Blechmülltonnen und über den kleinen verschneiten Hof. Dann betrat ich das Hinterhaus. Wie immer fächelte der Keller Feuchtes ins Treppenhaus, und über allem lag, wie ein eindringlicher Sauberkeitsbeweis, der Mief von Bohnerwachs. Bei jedem Tritt knarrten die Holzstufen, als würde das Haus um Gnade flehen. Doch jedes Mal wenn ich diese Schattenwelt betrat, fühlte ich mich auch beschwingt, weil ich Sekunden später Sophie begegnen würde.

Ich blieb vor dem ersten Flurfenster stehen und betrachtete mein Spiegelbild im dunklen Glas. Ich zog meine Haarbürste aus der Parkatasche, nahm mein Stirnband ab, kämmte Haare und Bart und streifte das Stirnband vorsichtig wieder auf. Dann stand ich vor der Tür und klingelte. Leider öffnete Bodo, Sophies Freund. Wie immer, wenn er putzte oder spülte, trug er die lächerliche hellblaue Schürze und sah mit seiner Ponyfrisur aus wie Prinzessin Eisenherz. Er sagte: „Ach du!“, als wäre unsere Verabredung eine Überraschung und drehte ab in die Küche. Von dort rief Sophie:
„Salut Leo! Komm rein!“
Ich folgte Bodo. Die Schürze war hinten mit einer akkuraten Schleife zugebunden. Sein rotkariertes Hemd war hochgerutscht und ein Zipfel weißer Feinripp ragte aus dem Bund der ewig braunen Cordhose. In der Küche empfing mich Sophie mit ihrem Lächeln, das auch ein Jahr, nachdem wir uns kennen gelernt hatten, jedes Mal Aufruhr in meine Eingeweide brachte. Das knöchellange dunkelrote Samtkleid – irgendeine Flohmarkttracht mit einem Oberteil aus bunten Stoffmosaiken und Perlenstickereien – passte wunderbar zu ihren hüftlangen, dunklen Haaren und tiefbraunen Augen. Sie umarmte mich und gab mir drei Wangenküsse:
„Schön, dass du da bist, mon cher!“
Sofort fühlte ich mich wohl. Ich liebte ihren weichen französischen Akzent, den kein Sprachkurs ruinieren konnte. Bodo ging zur Spülschüssel und kehrte mir den Rücken zu. Sophie deutete auf einen Stuhl und sagte:
„Setz dich, wir sind gleich fertig!“
Ich hockte mich an den Tisch, drehte eine Zigarette, zündete sie an und sah Sophie beim Abtrocknen zu. Die Klagen von einer Joan-Baez-LP schwebten leise durch den Raum.

Obwohl die beiden bereits seit über einem Jahr in dieser Wohnung lebten, sah die Küche aus, als hätte man sich nur vorübergehend niedergelassen. Es gab einen alten Kühlschrank, eine Kommode und den dunkelbraunen Holztisch mit gedrechselten Beinen, ein Erbstück aus dem Haushalt von Bodos Großtante. Alles Übrige war spartanisch: von der Decke hing eine Glühbirne, aus alten Wein- und Obstkisten hatten sie ein Regal gebastelt und darin Lebensmittel, Geschirr, Kochbücher und Vorratsdosen und eine Leninbüste untergebracht. Die fleckigen weißen Tapeten waren nicht einmal überstrichen. Auf einem Campingtisch standen ein verkrusteter Zweiplattenkocher – eine Art Vorkriegsmodell –, und daneben die alte Emailleschüssel für das schmutzige Geschirr und die Spülschüssel aus blauem Plastik.
Ein kleines schäbiges Steingutbecken ragte aus der Wand, der Wasserhahn winselte beim Aufdrehen laut. Wie bei jedem Besuch dachte ich, dass die Küche wohnlicher eingerichtet wäre, wenn ich mit Sophie hier leben würde.
Sophie sortierte das Besteck in die Tischschublade und fragte mich:
„Alors, wann geht es genau los?“
„Übermorgen.“
„Und was macht Nick?“
„Er hängt wieder bei seiner Bille ab!“
„Bien sur!“, sagte Sophie, „schließlich werden sich die beiden trennen müssen; außer Bille folgt euch nach Indien …“
Sie lächelte. Ich fand diese Vorstellung nicht erhebend. Bille gehörte nicht zu unserem Plan. Vielleicht auch, weil sie kein Typ für den radikalen Lebenswandel war.
„Und wann sagst du deinen Eltern Adieu?“, fragte Sophie.
„Ich werde morgen mit Gertrude frühstücken. Und Erich, na ja …“
Bodo sah kurz auf. Er kippte das Schmutzwasser in den Ausguss, wusch die Schüssel aus und stellte sie ab. Er lehnte sich an die Kommode, verschränkte die Arme und sagte süffisant:
„Dann beginnt wohl endlich das neue Zeitalter!“
Ich nickte. Wie so oft zielte er mit seinem starren Eisenherz-Blick eine Weile auf mich, als wollte er mich hypnotisieren. Bei unserer ersten Begegnung hatte er mich mit diesem Blick irritiert – obwohl, Sophie hatte mich damals noch viel mehr irritiert.

Bodo nahm die Baez-Platte vom Teller und legte sie neben den Plattenspieler.
„Jetzt kommt George Brassens!“, sagte er und hob die Augenbrauen, als kündigte er ein Feinschmeckergericht an. Weil ich die französischen Lieder nicht verstand, ging diese Sensation an mir vorbei. Ich bemerkte, dass Brassens weder besonders gut singen noch exzellent Gitarre spielen konnte, aber irgendwie mussten seine Texte  etwas Besonderes sein, denn auch Sophie, die man nie singen hörte, summte oder sang leise einzelne Passagen mit. Sie stand am Spülbecken vor dem Spiegel und zog ihre Kajallinien. Bodo steckte die Baez-Platte in die Hülle und schob sie vorsichtig in das Cover. Dann zog er die Schürze aus. Sophie prüfte im Spiegel ihre Schminkarbeit, warf den Stift in das Kosmetiktäschchen und setzte sich mir gegenüber:

„Bodo hat eine Überraschung für uns!“
Sie lächelte ihn an. Mir fiel zufällig die Kippe aus der Hand. Ich beugte mich zu Boden, hob sie auf und dann stand Bodo plötzlich hinter mir und legte die Hände auf meine Schulter. Im ersten Moment fühlte ich mich wie gelähmt. Der Griff wirkte unangenehm und ich drehte mich deshalb unwillkürlich aus der Berührung heraus. Doch statt loszulassen, packte Bodo noch fester zu, so dass ich genervt „Lass das!“ rief und gleichzeitig einen Ellenbogen nach hinten stieß.
„Hey, sachte – ich will euch doch nur zu einem Abschiedstrunk einladen … zur Feier des Tages“, sagte er besänftigend. „Ich habe da etwas Neues entdeckt.“ Dann ließ er mich los.

Auf dem kurzen Marsch zur Ringallee stapften Bodo und Sophie Seite an Seite durch den Schneematsch, während ich mich einen Schritt zurückfallen ließ und auf die dunklen Einsprengsel der Hundehaufen achtete. Wir mussten die sechsspurige Allee überqueren, aber weil wir keine Lust hatten, bis zur nächsten Ampel zu marschieren, blieben wir am Straßenrand stehen und sprangen jedes Mal zurück, bevor ein Auto im Vorüberfahren eine Ladung Matsch auf den Bürgersteig schleuderte. Plötzlich spurteten Bodo und Sophie ohne Vorankündigung über die Straße. Ich zögerte zu lange und kapitulierte vor der nächsten heranrasenden Fahrzeugkolonne. Bodo und Sophie warteten Hand in Hand  auf der gegenüberliegenden Seite und schauten zu mir herüber. In diesem Moment begriff ich, dass sich endgültig ein Kreis schloss: Genau vierzehn Monate zuvor hatte ich mich an dieser Stelle zum allerersten Mal von ihnen verabschiedet, kurz nachdem sie meine alte Wohnung besichtigt hatten.

An einem nasskalten Oktobertag gegen 18 Uhr hatten sie als letzte Bewerber an der Tür geklingelt. Als ich öffnete, fiel mir sofort Sophie auf: Sie stand in Rock und schwarzem Dufflecoat fast schützend vor Bodo und lächelte mich an. Ihr blasser Teint, das schmale Gesicht, ihr hüftlanges glattes, dunkles Haar, die braunen Augen, eingefasst von den feinen schwarzen Linien … automatisch bekam ich Herzklopfen. Bodo dagegen hatte kein Lächeln zustande bringen können, sondern sagte förmlich: „Guten Tag, mein Name ist Probst! Wir haben einen Termin!“ Dann folgte sein Hypnoseblick.
 „Kommen Sie herein!“, antwortete ich, und vor lauter Verunsicherung über Sophies Erscheinung und diesen Blick siezte ich ihn, obwohl er, wie ich, erst um die zwanzig war. Vielleicht lag es auch daran, dass er in seinem braunen Lederblouson und der Cordhose ziemlich spießig aussah.

Sie sprachen Französisch miteinander, zuerst leise, gegen Ende der Besichtigung etwas lauter. Ich wusste, dass sie über das fehlende Badezimmer diskutierten und das zu kleine Spülbecken, über die beiden Kohleöfen und die Lage der Toilette – draußen im Treppenhaus, eine halbe Etage tiefer. Sophie begann intensiver auf Bodo einzureden und zupfte im Rhythmus ihrer Sätze unbewusst an den herabhängenden Enden seines Schals, sodass Bodos Kopf jedes Mal leicht nach vorne geneigt wurde und es wie eine Zustimmung aussah. Ich schaute zwischendurch aus dem Küchenfenster. Der Kastanienbaum im Hof war fast völlig entblättert und seine kahlen Äste reckten sich flehend in den grauen Oktoberhimmel. Aus einer Nachbarwohnung webte sich der Alabama-Song von den Doors dazwischen. Plötzlich sagte Bodo: „Hallo … wir möchten die Wohnung gerne nehmen!“ Ich schrieb mir ihre Adresse auf und versprach, mich beim Vermieter für sie einzusetzen. Wir verließen die Wohnung, gingen ein Stück gemeinsam und verabschiedeten uns förmlich vor meinem Wagen, den ich an der Ringallee geparkt hatte. Bevor ich einstieg, sah ich ihnen nach, bis sie in der nächsten Seitenstraße verschwunden waren. Dann fuhr ich hinaus aufs Land, zu Gertrude und Erich.

Obwohl ich genügend Zeit hatte, spurtete ich ebenfalls über die Ringallee. Wir gingen zügig weiter und standen fünf Minuten später vor Bodos „Überraschung“ – es war das Havanna, eine Cocktailbar in einem weißen, renovierten Altbau. Trotz Wintertemperaturen standen zu beiden Seiten des Eingangs mannshohe Stechpalmen in hellen Kübeln. Durch die langgezogene Fensterfront der Bar sah man plüschige rote Sofas und davor, wie aus dem Designerkatalog angeordnet, jeweils einen kleinen Glastisch und zwei Clubsessel. Es sah so sauber und gelackt aus wie in einer Schöner-Wohnen-Zeitschrift. Der Barkeeper und der einzige Gast, der an der Theke vor einem Cocktail hockte, wirkten wie Schaufensterpuppen.
„Da willst du rein?“, fragte ich, „das ist doch keine Kneipe, sondern der absolute Spießerschuppen!“
Auch Sophie war irritiert. „Es ist bestimmt sehr teuer!“, sagte sie.

Doch Bodo lächelte:
„Das ist ein besonderer Tag und der muss besonders gefeiert werden – außerdem geht der erste Cocktail sowieso auf mich!“

Er legte einen Arm um meine Schultern und wieder störte mich diese Nähe – vielleicht, weil ich mir nicht sicher war, ob er diese Geste wirklich ernst meinte. Bodo ließ mich los, ging zur Eingangstür, öffnete sie, verbeugte sich tief vor uns und sagte: „Entree s'il vous plait!“ Dann hielt er den schweren dunklen Vorhang zur Seite, und nun standen wir Drei auf glattem Marmorboden und ich stierte den Barkeeper so mürrisch an wie er uns. Er war etwa Mitte vierzig und trug ein schwarzes, extrem glatt gebügeltes Hemd und eine weiße Fliege. Er schien zu überlegen, ob ein Prinz Eisenherz in Lederblouson, ein bärtiger Langhaariger in Parka und eine Hippiefrau in knöchellangem Kleid und Dufflecoat zu seiner Umgebung passten. Er schaute kurz auf die Uhr, dann versuchte er ein freundliches Lächeln. Aus unsichtbaren Lautsprechern rieselten leise Jazzballaden. Bodo marschierte zielstrebig an den hinteren Tisch und setzte sich auf das Sofa. Wir folgten ihm, und obwohl er Sophie signalisierte, an seiner Seite Platz zu nehmen, ließ sie sich, wie ich, in einen der Clubsessel fallen. Während Bodo die Cocktailkarte studierte, griff Sophie nach meiner Hand und sagte:
„Cher Leo – ich glaube, du wirst mir schon fehlen …!“
Ich wusste nicht, was ich antworten sollte, und wir schaukelten unsere Hände.
Bodo brauchte keine zehn Sekunden für seine Wahl. „Mojito!“, sagte er wie selbstverständlich. Er reichte Sophie die Karte, die meine Hand losließ und mir die Karte weitergab. „Trinkst du nichts?“, fragte ich.
„Ich nehme auch einen Mojito“, sagte sie.
Ich klappte die Karte auf und war geschockt, weil es keinen Cocktail unter 7 DM gab. Dann las ich etwa 20 Namen, mit denen ich nichts anfangen konnte – ich hatte noch nie einen Cocktail getrunken. Ich wollte es Bodo gegenüber nicht zeigen und sagte:
„Den nehm ich auch!“

Bodo war zuerst sehr friedlich und deshalb hatte ich irgendwann wirklich das Gefühl, dass er mich an diesem Abend nett verabschieden wollte. Ich beantwortete ein paar Fragen zur Reiseroute und erzählte nebenbei, dass wir auf dem Konsulat in Madras Adressen von Rechtsanwälten erhalten würden, die uns beim Kauf eines Grundstückes helfen konnten. Noch bevor ich ausgeredet hatte, meinte Bodo spöttisch: „Ihr seid mir die richtigen Hippies!“
Das nervte mich. „Wir sind keine Hippies!“, sagte ich, „Hippies fahren nach Indien, um sich die Birne zuzukiffen und zu gammeln – genau das  wollen wir nicht!“
Bodo nahm sein Glas, zog gierig am Strohhalm und fixierte mich:
„Ihr seid noch viel schlimmer, ihr seid Imperialisten im Hippiekostüm!“
Imperialisten war Bodos Lieblingsschimpfwort. Vor allem wenn er über die Außenpolitik der USA sprach. Ich fand, dass unsere Indienpläne wenig mit amerikanischer Außenpolitik zu tun hatten, und weil ich auch seinen Tonfall nicht mochte, sagte ich:
„Du spinnst! Wir wollen Indien weder überfallen noch irgendwie ausbeuten. Im Gegenteil, wir wollen dort in Frieden leben und von der Kultur lernen!“
„Dass ich nicht lache! Mit deinem Geld bist du da unten genau das, was du nie sein wolltest: ein Bonze! Du bist weiß, du bist reich und du nimmst dir Land. Ein Imperialist!“
Sophie stand auf und verschwand zur Toilette.
„Aber wir wollen doch kein Land kaufen, sondern ein kleines Grundstück. Wir wollen bloß in der Natur sein, Getreide und Gemüse anbauen, Brot backen, gesund leben, meditieren, unabhängig sein von allen Zwängen. Was ist denn daran imperialistisch?“
Bodo stieß mit dem Zeigefinger mehrmals in eine kleine Lache auf dem Glastisch.
„Meditieren, Brot backen … als ob es um Hobbies geht! Verdammt, die Leute da unten haben überhaupt keine Zeit zu meditieren, für die ist jeder Tag ein Kampf ums Überleben. Und dann kommt ihr, ein paar Hippies aus dem reichen Westen, im eigenen Auto, die ihre Geldbündel auf den Tisch legen und Land kaufen, für das der Inder mindestens zehn Jahre arbeiten muss. Findest du das gerecht? Du beschwerst dich doch immer über Ungerechtigkeiten …“
„Du weißt genau, dass mir das Geld nicht in den Schoß gefallen ist wie den Bonzen. Über eineinhalb Jahre bin ich mit diesem Vermessungstrupp über Straßen und Autobahnen gelatscht, mit der dämlichen Messlatte in der Hand. Und das bei jedem Wetter! Das war auch Kampf, so stupide wie das ablief!“
„Ja, und dann bist du wieder zu Mami und Papi gezogen, um Miete einzusparen! Du bist schon ein toller Kämpfer!“
„Du weißt genau, dass ich das nur gemacht habe, damit ich näher bei Nick wohnen und mit ihm den Bus ausbauen konnte – und damit ich nicht jeden Abend wieder in die Stadt zurückfahren musste, Mann!“
„So kann man es natürlich auch sehen …“
„Du blickst natürlich voll durch – Bodo, der große Checker! Du hängst den ganzen Tag in der Buchhandlung rum und träumst von Revolution. Warum bist du eigentlich nicht in Indien und hilfst den Unterdrückten gegen die Hippie-Imperialisten, he? Wann kämpfst du, anstatt nur dumm rumzumeckern?“
Bodo knallte seinen Mojito auf den Tisch:
„Bevor man kämpft, muss man erst mal die Lage analysieren und Verbündete suchen – und nicht einfach abhauen, wie du! Von einem Körnerfresser, der den ganzen Tag in der Hängematte meditieren will, lass ich mir nicht sagen, wann und wo ich zu kämpfen habe!“
Sophie kam zurück, hörte Bodos letzte Sätze und blieb vor unserem Tisch stehen. Sie beugte sich zu mir herab, drückte mir einen Kuss auf die Stirn und sagte:
„Da ist nichts zu machen, Leo, mit Meditation und so kann Bodo überhaupt nichts anfangen.“
Bodo blickte sie mürrisch an:
„Natürlich, hab ich ganz vergessen – Mademoiselle hat ja etwas übrig … für alle möglichen Spinner!“
„Bodo, lass das“, Sophie nippte an ihrem Cocktail.
„Bodo, lass das …“, äffte er nach. „Aber so ist es doch! Am liebsten würdest du nach Indien mitfahren, dort mit Leo Radieschen pflanzen und dabei Mantras singen.“
Sophie schaute ihn an und schwieg. Ich konnte die Anstrengung spüren, mit der sie Bodos Worte und die Situation zu begreifen versuchte. Bodo erwiderte gereizt den Blick. Sekundenschnell entstand zwischen beiden eine fast unerträgliche Spannung. Nach einem Moment, der mir wie eine Ewigkeit vorkam, schüttelte Sophie ganz langsam den Kopf und sagte leise:
„Weißt du, Bodo, ich verstehe dich immer weniger!“
Sie sah mich an: „Leo, ich gehe jetzt.“
„Ich auch!“ sagte ich, nahm einen letzten Schluck, erhob mich schnell und folgte ihr. Plötzlich stand Bodo mit einem Ruck auf und rief:
„Ach du, du Leo – du würdest ihr am liebsten sowieso ständig am Arsch kleben …!“
Ich war von seinem Angriff so erschrocken, dass ich stehen blieb und mich zu ihm umdrehte. Bodo schien wie zum Sprung bereit und ich fürchtete wirklich, dass er im nächsten Augenblick das Tischchen wegtreten und auf mich losstürmen würde. Noch bevor ich antworten konnte, hörte ich Sophies enttäuschte Stimme:
„Bodo, du tust mir wirklich leid. Das hast du nicht nötig!“
Sie hastete Richtung Ausgang und ich folgte ihr.
Der Barkeeper hatte die Szene mit skeptischem Blick beobachtet, und auch der Gast auf dem Hocker hatte sich aufgerichtet und glotzte interessiert. Dann rief Bodo:
„Dein Scheiß-Leo ist auch nur ein Typ, der dich ficken will!“
Ich hatte das Gefühl, dass mein Gesicht brannte. Ich wollte Bodo antworten, suchte nach Worten, doch in meinem Kopf war alles gelähmt. Sophie winkte mit einer Hand ab, und ohne sich umzuschauen, riss sie den Vorhang zur Seite und verschwand.

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