Der Fisch, das Büfett und der Tod

Auszug aus der Kriminalkomödie von Jochen Etienne

(nach einem Drehbuch von Jochen Etienne und Heike Nickel)


MONTAG


Kommissar Kosmolla hielt den wassergefüllten Beutel mit beiden Händen in die Höhe und betrachtete den Fisch. Der rot-weiß gefleckte Koi balancierte mit kurzen Bewegungen seiner Seitenflossen, öffnete und schloss das Maul und glotzte zurück.
„So, mein Goldfischchen, heute ist Zahltag!“, sagte Kosmolla und lächelte. Dann ließ er den Beutel in den Karton sinken und schloss den Deckel.
Es war der letzte lebendige Kontakt der beiden.

Kosmolla stellte den Karton auf die Motorhaube seines Golf-Cabrios. Das Auto, in stumpfem Rot und mit einigen Beulen, hatte schon bessere Zeiten gesehen – Kosmolla ebenfalls. Aber an diesem Morgen wirkte er trotz der Schatten unter den Augen munterer als üblich: er hatte sich rasiert und das schüttere noch dunkle Haar glatt nach hinten gegelt. Diese Veränderung, kombiniert mit Anzug und Pullover, verlieh ihm Seriosität – allerdings betonten die dunklen Stoffe auch seinen fahlen Teint.
Kosmolla schaute auf seine Armbanduhr und beobachtete Rosi König, die ihr Fahrrad an sein Garagentor lehnte und abschloss. Er zog ein letztes Mal an seiner Zigarette und schnippte sie über den Zaun auf den Rasen des Nachbargrundstücks. Dann setzte er sich auf den Beifahrersitz, und Rosi reichte ihm den Karton. Er nahm ihn auf den Schoß, gab ihr die Autoschlüssel und sagte: „Bloß nicht verlieren …!“
„Kümmere du dich lieber um dein Fischli!“, antwortete sie und setzte sich hinter das Lenkrad. Sie griff unter den Sitz, löste den Feststellhebel und rückte mit dem Sitz ächzend ein Stück nach vorne. Anschließend verstellte sie die Position der Lehne und verschaffte genügend Abstand zwischen Lenkrad und Oberkörper. Von Rosi unbemerkt beobachtete Kosmolla die Prozedur und schüttelte den Kopf – er mochte es nicht, wenn mollige Frauen engsitzende und auffällig gemusterte Kleider trugen. Rosi startete den Wagen, und Kosmolla rückte den Karton zurecht, blickte in den blauen Maihimmel und dachte, dass es ein guter Tag werden würde.

„Du siehst heute aber schick aus... neue Frisur, neues Jackett und sogar frisch rasiert. Und alles nur für diesen Doktor…?“, sagte Rosi.
Der röhrende Auspuff von Bratzkes Leichenwagen übertönte Kosmollas Antwort. Der schwarze Mercedes fuhr ihnen auf der schmalen Straße des Neubauviertels entgegen.
„Hast du den etwa bestellt?“, rief Rosi.
Kosmolla zuckte mit den Schultern. Der Fahrer des Leichenwagens grüßte den Kommissar mit einem Kopfnicken. Heribert Bratzke – Schreinerei und Bestattungen stand in silbriger Schrift auf der Wagenseite.
„Die armen Toten“, sagte Kosmolla, „wie sollen die in dieser Karre Ruhe finden …?“
„Die Karre ist mehr ein Problem für die Lebenden. Willst du den Bratzke nicht mal anmahnen – der Lärm ist ja unerträglich?“
Kosmolla sah Rosi an und schwieg.
„Wo müssen wir dein Viech überhaupt abliefern?“
„Bei Dr. Maiwald, Am Haingraben 9. Und für mein Viech“, sagte Kosmolla, „zahlt Dr. Maiwald 1500 Euro!“
„Aber das ist doch nur so ein … Dings und kein Wal.“
Kosmollas Stimme wurde eindringlicher: „Das Dings ist ein Koi-Karpfen, den ich veredelt habe. Und er ist meine Kapitalanlage!“
„Die du in einem Müllsack transportierst?“
„Rosi, das ist eine wasserdichte Spezialfolie, die nur für den Koi-Transport entwickelt wurde. Außerdem ist sie ziemlich teuer.“
„Wow …“, antwortete Rosi, als würde diese Information ihr Leben verändern. „Und was macht dein Fischlein so wertvoll?“
„Mein Gott, das ist kein Fischlein, das ist ein Koi, ein Tancho Kohaku, eine ganz besondere japanische Züchtung!“
„Weil bei der Kopulation ein Streichquartett aufspielen musste, oder was?“
Kosmolla seufzte: „Fische kopulieren nicht: Die Weibchen laichen ihre Eier ab, den Rogen, und das Männchen, der Milchner, verteilt dann seine Samenflüssigkeit darüber. Aber du hast Recht, es gibt es unter Fischen durchaus sensible Wesen – auch wenn du das nur schwer nachvollziehen kannst. Der Koi ist zum Beispiel ein extrem stressanfälliges Tier und hat …“
Schon nach den ersten Sätzen bereute Rosi ihre Frage. Sie versuchte Kosmollas Belehrungen auszublenden und sich auf den Straßenverkehr zu konzentrieren. Aber der Versuch misslang – erstens, weil es keinen Verkehr gab, und zweitens, weil Kosmolla in Fahrt gekommen war und leidenschaftlich laut weitererzählte:
„ … wenn aber die Wassertemperatur zu sehr schwankt oder der Teich mit Bakterien belastet ist, dann ist höchste Vorsicht geboten, das muss immer kontrolliert werden und zwar …“
Rosi gähnte unwillkürlich.
„ … und, stell dir das mal vor, sie können auch einen Sonnenbrand bekommen, wenn sie keinen Schatten unter Wasser finden. Damit gehört der Koi zu den wenigen Fischarten, die …“
Rosi spürte sein inneres Feuer und dachte an Kosmollas Temperament während gemeinsamer Einsätze oder bei Büroarbeiten – dort war er so phlegmatisch, dass er in seinem Beruf nur als Chef eines Kleinstadtreviers überleben konnte. Sie war überzeugt, dass Kosmolla in einem Großstadtrevier aufgrund seines Verhaltens schon längst von den Vorgesetzten zu einer psychologischen Kontrolle geschickt worden wäre.
„Da vorne an der Kreuzung geht’s rechts ab“, sagte Kosmolla und umklammerte den Karton fester. Die Ampel an der Kreuzung sprang auf Rot. Rosi hielt an und fragte sich, wieso Mandlberg, ein abseits gelegener ländlicher Ort mit 3500 Einwohnern, einer übersichtlichen Straßenstruktur und wenig Verkehr – selbst Traktoren schienen ausgestorben zu sein – drei Ampelanlagen benötigte. Kosmolla wollte gerade ein weiteres Kapitel der Koizucht aufschlagen, doch ein lautes Stimmengewirr lenkte ihn ab. Wenige Sekunden später trabte ein Trupp korpulenter Frauen in bunten Stretchhosen und weiten Pullis und in angeregter Unterhaltung zur Fußgängerampel.
„Du liebe Güte!“, raunte Kosmolla als die Gruppe den Zebrastreifen vor seinem Golf überquerte. Plötzlich riefen einige Joggerinnen fast zeitgleich „Hallo Rosiiiiiie!“, traten vor dem Cabrio auf der Stelle und winkten. Rosi winkte zurück, die Frauen liefen weiter und Kosmolla schaute seine Kollegin irritiert an.
„Kein weiteres Wort!“, sagte Rosi, legte bei Grün den Gang ein und bog auf die Hauptstraße ab.

Die Hauptstraße Mandlbergs besaß nicht nur drei Ampelanlagen, sondern seit zwei Monaten auch eine Großbaustelle, weil Kanalrohre erneuert wurden. In gleichmäßigem Abstand von mehreren Metern war der Asphalt quer zur Fahrtrichtung aufgerissen worden. Nach dem Austausch der Rohre und vor der Asphaltierung hatten die Bauarbeiter die Gräben mit Erde und Sand gefüllt, aber nur halbherzig zugestampft, sodass eine Strecke mit passablen Bodenwellen entstanden war. Deshalb sagte Kosmolla schon einige hundert Meter vor der ersten Vertiefung:
„Vorsicht, da vorne ist die Baustelle!“
„Ich bin nicht blind!“
Kosmolla hielt den Karton fester, dann klingelte sein Handy. „Mist!“, sagte er.
„Sieh‘ bitte nach, vielleicht ist’s die Dienststelle!“
Kosmolla blickte auf die Armbanduhr: „Verdammt, es ist schon viertel vor Acht, Dr. Maiwald wartet auf seinen Koi!“
„Kurt, bitte …!“
Mit einer Hand zerrte Kosmolla das Handy aus seiner Jackentasche, verzog den Mund und drückte auf die Freitaste:
„Gehls, was gibt’s?“, fragte er ungehalten. „Aha.“ – „Jaaaaa, aber das ist gerade gaaanz schlecht.“ – „Hm. Das kann auch Wagner machen …“ – „Aha, so früh …?“ – „ Und, wohin genau?“ – „Oh, auch das noch!“, Kosmolla steckte das Handy zurück.
„Was ist los?“, fragte Rosi.
„Schlägerei oder so hinter dem Jobcenter, ausgerechnet jetzt.“
„Wieso sollen wir dahin und nicht die Uniformierten?“
„Gehls muss in der Dienststelle bleiben, weil Wagner schon irgendwo im Einsatz ist.“
„Prima, wahrscheinlich holt er wieder Frühstücksbrötchen …“
Sie schaltete einen Gang zurück und beschleunigte das Cabrio so heftig, dass der Karton auf Kosmollas Knie verrutschte.
„He, pass auf – mein Koi!“
„Vielleicht sind Menschenleben wichtiger?“
„Trotzdem … Mein Auto ist auch nicht mehr das Jüngste.“
Rosi schüttelte den Kopf und schaltete in den dritten Gang.
„He, langsamer, Rosi, gleich kommen die Bodenwellen …“
„Weiß ich …!“

Etwa dreißig Meter entfernt setzte in diesem Moment der arbeitslose Dekorateur Benedikt Zaschke einen Fuß auf die Hauptstraße. Der 25-jährige tat einen weiteren Schritt, blieb stehen und blickte auf ein Schreiben, das er in den Händen hielt. Rosi registrierte den schlaksigen Fußgänger und hupte, ohne das Tempo zu verringern. Das Hupen erschreckte Zaschke, und er hätte der Gefahr mit zwei Schritten zurück auf den Gehweg ausweichen können – doch er blieb, mit dem Blatt Papier in der Hand, stehen und starrte auf das heranbrausenden Cabrio. Er bemerkte Rosis entsetzten Blick und die gebeugte Haltung des Beifahrers, der einen Karton vor seine Brust presste. Dank einer hektischen Lenkbewegung steuerte Rosi den Wagen knapp an Zaschke vorbei und hinterließ einen Windzug, der seine langen Haare leicht aufwirbelte.
Durch das Ausweichmanöver geriet das Cabrio ins Schlingern und knallte in die erste Bodenwelle. Der Kommissar schrie auf, und davon erschrocken und abgelenkt, fuhr Rosi ungebremst in die nächste Bodenwelle. Der Golf schaukelte so massiv auf, dass sie für einen Moment das Lenkrad losließ. Kosmolla hatte schon während der ersten Stöße die Kontrolle über den Karton verloren, doch erst die Wucht der zweiten Bodenwelle presste den Karton gegen die Beifahrertür. Dort streifte er die Kante des heruntergelassenen Fensters, riss ein und gab den großen wassergefüllten Plastikbeutel frei. Vergeblich versuchte Kosmolla den Beutel zu packen, die Wucht der dritten Bodenwelle schleuderte ihn mit Schwung auf die Straße. Dort zerbarst er mit einem Knall, Wasser spritzte auf, der Koi wirbelte durch die Luft und flog vor das Auto. Zaschke, der das Unglück wie angewurzelt beobachtet hatte, sah, dass etwas Rötliches unter das Fahrzeug geriet und bei Rosis abschließendem Bremsmanöver vom rechten Hinterrad ausgewalzt wurde.
Dann war Ruhe.
Nachdem Zaschke registrierte, dass sich Fahrerin und Beifahrer bewegten und irritiert ansahen, legte sich sein erster Schreck. Blitzartig wurde ihm bewusst, dass er der eigentliche Auslöser für dieses Manöver war, dass er für sämtliche Schäden haftbar sein konnte. Ohne nachzudenken spurtete er über die Straße und verschwand zwischen zwei Wohnhäusern in einem schmalen Weg – einer Abkürzung zur Filiale des Jobcenters. Noch im Laufen hörte er einen weiteren furchtbaren Schrei, sodass er zusätzlich Tempo aufnahm. Als sich Minuten später die Glastüren des Jobcenters hinter ihm schlossen, blieb Zaschke im Foyer stehen, atmete heftig und fühlte sich in der verhassten Umgebung zum ersten Mal geborgen.

Einige Sekunden nachdem Rosi das Cabrio zum Stehen gebracht hatte, starrte Kosmolla wie betäubt auf seine leeren Hände. Schließlich hob er den Kopf und stieg aus. Er ging ein paar Meter zurück, kniete sich in die Wasserlache, sah auf die Fahrbahn und konnte nicht begreifen, dass nach diesem Vorfall von seinem Tancho Kohaku, dem japanischen Zuchtwunder, nichts anderes übriggeblieben war als eine breiige, blutig-schleimige Spur. Nicht einmal eine Flosse oder ein Auge konnte er darin entdecken, nur viele Schuppen und zerfetzte Gräten. Auch Rosi, die hinter Kosmolla stand, blickte ungläubig auf die Fischreste und schwieg. Schließlich flüsterte Kosmolla:
„Ohhh, ohhh, mein Koi …“, dann begann er laut zu jammern: „Mein Koi … mein lieber, lieber Koi … mein Koiii!“
„Kurt, das tut mir sehr leid!“, sagte Rosi leise.
Kosmolla schaute sie an, in seinem Blick verschmolzen Trauer und Verzweiflung. Er presste ein „Uhh …“ heraus und sah wieder auf den Kadaver.
„Kurt …“, Rosi legte ihre Hand auf seine Schulter.
„Was ist …?“, rief er und stieß ihre Hand beiseite.
„Mensch Kurt, wir sind unverletzt geblieben, Gott sei Dank … Es hätte schlimmer kommen können.“
„Ach ja …?“
„Was hätte ich denn machen sollen? Der Typ wäre mir direkt in den Wagen gelaufen.“
Kosmolla drehte sich zu ihr: „Was denn für’n Typ? Spinnst du jetzt?“
„Na, der junge Mann, der eben die Straße überqueren wollte! Hast du den nicht gesehen?“
„Ich habe keinen Typ gesehen!“
„Weil er sofort abgehauen ist! Kurt, da stand wirklich ein junger Mann mit langen Haaren, der einen Plan oder ähnliches in der Hand gehalten und darin gelesen hat. Obwohl ich gehupt habe, ist er einfach auf der Straße stehen geblieben … Wo hast du denn deine Augen gehabt?“
„Verdammt, ich habe mich auf meinen Karton konzentriert und ihn festgehalten, weil du wie verrückt auf die Baustelle zugerast bist.“
„Aber wir waren im Einsatz!“
„Ob wir zehn Sekunden früher oder später eintreffen, ist doch scheißegal. Musstest du Gas geben wie eine Irre?“
„Mach’ mal halblang. Ohne diesen Fußgänger hätte es überhaupt kein Problem gegeben.“
„Ich habe aber keinen Fußgänger gesehen und sehe auch im Augenblick keinen …“, er schaute sich demonstrativ um. „Wo isser denn hin, dein Fußgänger?“
„Weggelaufen! Kapierst du das nicht? Er ist geflüchtet!“
„Dann ist nur dieser Fußgänger schuld an allem hier…“, er deutete auf die breiige Masse, „aber nicht du mit deiner Raserei …?“
„Zum Beispiel …“
„Ah, genau – zum Glück gibt es ja unbekannte Fußgängertypen …“, sagte Kosmolla, „aber dass du viel zu schnell gefahren bist, willst du nicht kapieren! Dass du meine Warnungen ignoriert hast und dass du mit weniger Tempo den Wagen besser kontrollieren kannst, willst du auch nicht kapieren: Das alles geht offensichtlich nicht in dein Hirn!“
„Kurt, wie drehen uns gerade im Kreis …“
„Verdammt, siehst du nicht, was hier passiert ist?“ Er deutete auf die Koi-Reste.
„Aber wir beide sind unverletzt! Und das da … das ist doch nur ein Fisch!“
„Nur-ein-Fisch?“, rief Kosmolla.
„Na ja, ich meine …“
„Das da … das waren 1500 Euro! Das war meine Japanreise und mein Koi-Seminar in Yokohama!“ Er stand auf: „Oh, ich Depp, was lass ich dich auch ans Steuer, so schusselig wie du immer bist!“
Rosi kniff die Lippen zusammen, dann sagte sie: „Ich … immer schusselig?“
„Natürlich du, wer sonst? Du suchst dauernd deine Schlüssel oder verlierst sie, und du bist irgendwie immer zerstreut … Und dann reagierst du noch wie ein Trampeltier! Ich hab dich zigmal vor den Bodenwellen gewarnt!“
„Also, jetzt halt mal die Luft an, Kosmolla!“
„Ich … ich kann grad gar nichts mehr halten, wenn ich dich Trampel sehe!“
Rosi schwieg, dann zischte sie: „Idiot!“
Sie nahm ihre Handtasche vom Rücksitz und verließ die Unfallstelle wortlos.
„Ja, hau ab, verschwinde …“, rief ihr Kosmolla nach, „am besten zu deinem Fußgänger!“
„Idiot!“, sagte Rosi laut, und ging Richtung Dienststelle.

Kosmolla betrachtete wieder die Kadaverreste, dann klingelte sein Handy. Er zog es hastig aus der Jackentasche. „Was ist?“, fragte er. – „Aha …“ – „Was heißt das: ‚die Streife hat’s übernommen‘ …?“ – „Ah, Wagner ist jetzt unterwegs zum Jobcenter? Na wunderbar, da freu’ ich mich aber, und wiiiie!“
Kosmolla blieb einen Moment regungslos stehen, dann trat er mehrmals gegen das rechte Vorderrad und brüllte im Rhythmus seiner Tritte:
„Scheiße, scheiße, scheiße …“

*

Wenn jemand durch seine gedrungene, korpulente Statur, den rosigen Teint, die kräftigen Arme, einen wulstigen Nacken, eine Glatze und eine vollmondähnliche Gesichtsform seinen Beruf auf den ersten Blick zu erkennen geben konnte, dann war es Metzgermeister Dieter Klamp. Der Dreiundfünfzigjährige stand in weißem Kittel und mit verschränkten Armen auf den Stufen vor seinem Geschäft, kaute ein Stück Wurst und blickte aus schmalen Augen zur Straße. Es war zehn Uhr, der Kundenverkehr ließ an diesem Montagmorgen noch zu wünschen übrig, einzig Hansi Flasskow fegte mit seinem Reisigbesen monoton über das Trottoir und näherte sich der Metzgerei. Der braungebrannte Straßenkehrer trug einen verwaschenen Blaumann, eine dunkelblaue Stoffkappe und schwarze Stiefel. Während seiner Arbeit verfolgte er stirnrunzelnd jede Bewegung des Besens und blickte so konzentriert auf den Bürgersteig, als würde er etwas Wertvolles in Staub und Dreck suchen. Neben Hansi Flasskows großem, schlankem und drahtigem Körper wirkte Klamps Dickwanstigkeit auffallend hässlich.
„Na, Hansi, wirste dieses Jahr Schützenkönig, he?“, rief Klamp und grinste.
Hansi hielt inne, drehte sich zu Klamp, sagte: „Nei-hi-hi-hiiieen“, wobei er die Silben stoßweise betonte und mit offenem Mund so laut lachte, dass sich ein zarter Speichelfaden über das Kinn Richtung Blaumann spann. Hansi schloss den Mund und wischte den Speichel mit dem Jackenärmel ab. In Erwartung ihres gemeinsamen Rituals lächelte er den Metzger weiterhin an und erhoffte das Gratisstück Wurst, das ihm Klamp immer überreichte, wenn er vor dem Laden fegte. Doch in diesem Moment ignorierte Klamp das Lächeln, denn er bemerkte eine Gruppe fülliger Joggerinnen, die sich auf dem Bürgersteig im Trab näherte, und statt Hansi zu beschenken, sagte er: „Wow, was für saftige Wonneproppen – ne, Hansi?“, und lachte frivol. Hansi kicherte und wartete noch immer auf das Wurststück, doch Klamp fixierte die Joggerinnen, bis sie seinen Laden passierten. Er grüßte sie mit einem gedehnten „Hallooo“, einige Damen nickten, verfolgt von Klamps lüsternem Blick. Auch Hansi betrachtete den Trupp, schaute aber mehrmals hinüber zu Klamp, der in die Bewegungen der Joggerinnen vertieft blieb. Der Straßenkehrer verharrte noch einige Sekunden, dann konzentrierte er sich wieder auf den Schmutz des Bürgersteiges und begann zu fegen.
„Mann oh Mann, was für Hinterteile …!“, sagte Klamp und schüttelte den Kopf. Er bemerkte wieder die gleichmäßigen Kehr-Geräusche und sagte:
„Hansi, jetzt hol’ ich dir deine Wurst!“
Noch bevor er die Treppe erreicht hatte, hörte er lautes Reifenquietschen, sah zur Straße und erkannte sofort das blassrote Cabrio.

Kosmolla stoppte den Wagen unmittelbar vor Klamps Geschäft, schaltete den Motor ab und drehte das Lenkrad mehrmals ruckhaft nach links und rechts. Er stieg aus, schlug die Wagentür zu, kniete sich neben den linken Vorderreifen und rüttelte mit beiden Händen daran. Dann stand er auf, wischte sich die Hände an seinem Taschentuch ab und nickte Richtung Hansi und Klamp. Er zog einen Kamm aus der Gesäßtasche, fuhr sich unter den Blicken der beiden Männer zweimal durch sein Haar und steckte den Kamm zurück.
„Du hast wohl gestern zuviel gesoffen, Kurti, hä …?“, sagte Klamp.
„Das war nur ein Lenktest.“, sagte Kosmolla.
„Klar, würd’ ich an deiner Stelle auch sagen …“
Der Metzger stieg die Stufen zu seinem Geschäft hinauf und öffnete die Tür: „Hereinspaziert, Herr Kommissar!“ Klamp verneigte sich leicht. Als Kosmolla an ihm vorbeiging, schnüffelte der Metzger mehrmals: „Sag mal, kommst du grade vom Fischmarkt?“
„Sehr witzig!“
„Wie siehst du heute überhaupt aus? Frisch rasiert, schwarzer Anzug, neue Schuhe – war der Herr etwa auf einer Beerdigung?“
„Halt die Klappe!“
„Ist ja schon gut … Was darf’s heute sein?“
„Mach’ mir zwei!“
„Mit oder ohne …?“
„Was …?“
„ … extra Zwiebeln.“
„Herrje, ohne – ich muss noch zur Arbeit!“
„Jaja, immer mit der Ruhe …!“
Klamp ging hinter die Theke, schnitt zwei Brötchen auf und belegte jeweils eine Hälfte mit gewürztem Mett. Aus dem Nebenraum drang plötzlich das Kreischen von Kreide.
„Was ist das denn?“, fragte Kosmolla, „hast du endlich deinen Ein-Euro-Jobber bekommen?
„Ja, vor ’ner Stunde – aber was für einen!“, Klamp legte die Brötchenhälften aufeinander.
„Wieso?“
„Seit Monaten versuche ich mit meinem Partyservice in die Pötte zu kommen und Arbeitsplätze zu schaffen, und schließlich schicken mir die Deppen vom Jobcenter einen Langhaarigen, der sich nur mit Grünkernfrikadellen auskennt.“
„Hä …?“
„Einen Ve-ge-ta-ri-er!“
„Wenigstens kann er schreiben …“
„Ich brauch’ aber keinen Schönschreiber für die Angebotstafeln, sondern jemand Flinkes für meinen Partyservice!“
Kosmolla nahm die verpackten Brötchen entgegen, legte ein paar Münzen auf die Theke und sagte im Hinausgehen:
„Dann geh doch zum Amt und tausch’ ihn wieder um!“
Klamp sah ihm nach und sagte leise: „Du arrogantes Arschloch!“
Dann rief er: „Zaschke, schreib’ keine Romane, bring mir endlich die Würste!“

*

Zehn Minuten später betrat Kosmolla seine Dienststelle, die im Ortskern von Mandlberg in einem kleinen grauen Flachbau untergebracht war. Der Parkplatz vor dem Revier – gedacht für die beiden Streifenwagen und die Privatwagen des Personals – war aus unerfindlichen Gründen fast doppelt so groß wie die Grundfläche des Hauses. In dem Gebäude gab es neben einer kleinen Vorratskammer und zweier Toiletten insgesamt vier größere Räume: die Ausnüchterungszelle, sowie ein Zimmer, in dem Akten, Asservate und Archivmaterial untergebracht waren. In der Mitte des langgezogenen Flurs lag das gemeinsame Arbeitszimmer der beiden Schutzpolizisten Wagner und Gehls. Am Ende des Flures teilten sich die Kommissare König und Kosmolla ein Büro. Das Zimmer der beiden war etwas geräumiger und heller als das der Polizisten, hatte aber für Kosmolla in diesem Moment den Nachteil, dass dort Rosi König hinter ihrem Schreibtisch saß.
Mit der Brötchentüte in der Hand blieb Kosmolla vor der Tür stehen und zögerte. Weder der kleine Spaziergang, den er im Anschluss an den Unfall unternommen hatte, noch der Duft der Mettbrötchen beruhigten ihn. Der Ärger über Rosis Fahrweise und über den toten Koi gärte weiter. Er dachte daran, dass dieses Büro eine sehr lange Zeit allein sein Büro gewesen war, in dem er unumschränkt herrschen konnte – bis sich Rosi König ein halbes Jahr zuvor in seine Dienststelle versetzen ließ. Der Gedanke, dass er eigentlich vor seinem Büro stand, und sein Magenknurren und der verführerische Duft der Mettbrötchen bezwangen schließlich die Unentschiedenheit: Kosmolla öffnete energisch die Tür, sah Rosi, ignorierte sie und ging zu seinem Schreibtisch. Er hängte seine Jacke über die Lehne des Drehstuhls, setzte sich, legte die Füße auf den Tisch und packte ein Mettbrötchen aus. Gierig biss er hinein und grunzte manchmal beim Kauen. Auch ohne Extra-Portion verbreitete sich sofort der zwieblige Duft von Klamps Mettmischung im Raum. Rosi, die Kosmollas Schritte schon zuvor identifiziert hatte, sah nicht auf, als er das Zimmer betrat. Angewidert von dem Zwiebelgeruch seufzte sie leise und zog mit einer kleinen Harke kräftige Linien in den Sand ihres Miniatur-Zengartens, der ein Viertel der Schreibtischplatte einnahm.
Kosmolla biss ein zweites Mal herzhaft in das Brötchen, nahm die Tageszeitung vom Schreibtisch und öffnete sie. Während er die erste Meldung las, klingelte sein Handy. Er ließ die Zeitung sinken, nahm das Gespräch an und sagte mit vollem Mund undeutlich „Kosmolla“. Dann ging ein Ruck durch seinen Körper, er schluckte schnell den Bissen hinunter, nahm die Füße vom Tisch, setzte sich aufrecht und sagte:
„Ohh, Dr. Maiwald … Ja, Entschuldigung, ich … ich habe ja schon mehrmals versucht, Sie zu erreichen, aber Ihr Handy …“ – „Ach so, der Kleine hat damit ...“ – „Äh, genau darüber wollte ich mit Ihnen reden … – Nein, ich hatte …“ – „Nein, ich war schon auf dem Weg zu Ihnen, da kam, äh, dienstlich etwas dazwischen.“ – „Der Koi? Jaaa, also, also der Koi … genau, der hatte, äh, einen Unfall.“ – „Hä?“ – „Nein, kein Krankenhaus, er ist … tot. Überfahren.“ – „Wie bitte?“ – „Nein … eine Art Bremsmanöver.“ – „Nein, einen anderen dieser Größe habe ich gerade nicht, leider.“ – „Herr Dr. Maiwald, woher soll ich denn …“ – „Nein, aber ich könnte frühestens in einem halben Jahr…“ – „Hallooo, Herr Dr. Maiwald? Halloo, Herr Doktor …?“
Kurt klappte das Handy ein und starrte auf seinen Schreibtisch. Dann sah er hinüber zu Rosi und sagte:
„Größten Dank auch, Frau Kommissarin! Maiwald ist abgesprungen … Weißt du, was das heißt?“
Schweigend harkte Rosi neue Muster in den Sand des Zengartens.
„Das heißt, dass ich sämtliche Kontakte zu seinen Freunden und Bekannten verliere“, rief er, „alles Geschäftsleute mit Geld! Deinetwegen gehen mir jetzt Koi-Bestellungen über zigtausend Euro durch die Lappen! Und das heißt auch, ich kann keinen zweiten Teich bauen, ich kann keine Japanreise machen und keine Fortbildungen… Begreifst du eigentlich, was das alles für mich bedeutet?“
Bei dem letzten Satz war Kosmolla aufgestanden und hatte sich auf die Schreibtischplatte gestützt: „Ist dir klar, dass du mir einiges schuldest?“
„Ach ja?“, sagte Rosi, ohne aufzublicken.
„Ach ja“, äffte er Rosi nach. „Das Mindeste, was ich will, sind die 1500 Euro für den Koi! Und zwar dalli!“
Rosi hob ihren Kopf:
„Kurt, jetzt bleib mal auf dem Teppich. Das war ein Ausweichmanöver, eine Art Betriebsunfall. Wenn du einen Schuldigen brauchst, dann suche diesen Mann, der taub und blind über die Straße gehen wollte und nicht einmal auf das Hupen reagiert hat.“
„Ah, na klar, wieder dieser Typ … Am besten geben wir gleich eine Rasterfahndung raus … junger taubblinder Mann gesucht … Oder wie stellst du dir das vor?“
Rosi zuckte mit den Schultern.
„Das war eindeutig deine Schuld, weil du gerast bist wie eine Irre!“
„Es war ein Polizeieinsatz und nicht meine Schuld!“
„Doch, es war deine Schuld – und deine Blödheit und Unfähigkeit! Was lass’ ich auch eine Frau ans Steuer, wenn ich Edelfische transportiere …!“
„Weil gerade du ein so toller Autofahrer bist? Erinnere dich mal: Wer konnte vor zwei Wochen den ersten Gang nicht vom Rückwärtsgang unterscheiden, he …?“
„Das war etwas ganz anderes!“
„Stimmt, das war Fahrerflucht – denk mal an die Beule bei deinem Hintermann!“
Kosmolla fuchtelte mit dem Zeigefinger: „Erstens hat mich der Blödmann unmöglich zugeparkt, zweitens war das sowieso eine Schrottmühle – und drittens: ich habe vor Kurzem eine Urkunde für 30 Jahre unfallfreies Fahren erhalten! Und viertens, ein Mann würde für seine Fehler geradestehen!“
Rosi ließ den kleinen Rechen fallen, griff nach ihrer Handtasche und sagte mitleidig:
„Kein Wunder, dass es deine Frau und deine Kinder mit dir nicht mehr ausgehalten haben …!“
Sie nahm eine Tupperwarebox vom Tisch, verließ das Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu.
Dann war es still – eine Stille, die Kosmolla vertraut war.

Rosi ging in das Büro nebenan und meldete sich bei Gehls und Wagner ohne Angabe von Gründen ab. Dann verließ sie die Dienststelle und hastete auf dem Gehweg voran, als wäre sie verspätet zu einem wichtigen Termin aufgebrochen. Sie dachte an den vorangegangenen Streit mit Kosmolla, an seine Beleidigungen und bezweifelte zum ersten Mal ihre Versetzungsentscheidung. Das Signal einer Autohupe riss sie aus den Grübeleien und Rosi blieb abrupt stehen. Nachdem sie registriert hatte, dass das Signal einem Radfahrer galt, atmete sie durch und spürte ihren Hunger. Nach einem Blick in den wolkenlosen Himmel entschied sie, die kleine Mahlzeit auf der Bank unter der Linde am Marktplatz einzunehmen.
Auf dem Weg dorthin legte sich ihr Ärger, auch weil sie versuchte, die bitteren Gedanken abzublocken und wieder an positive Momente ihres neuen Berufslebens zu denken: an die freundliche Art der Kollegen Gehls und Wagner … an die gemächliche Arbeitsweise der kleinen Dienststelle … an die überschaubaren Aufgaben – und an die angenehm warme Mai-Sonne, die sie gerade auf der Haut spürte.
Sie erreichte den Marktplatz und bemerkte zufrieden, dass die Bank unter der Linde frei war. Rosi setzte sich an den äußersten Rand, der einzigen Stelle, die ein schmaler Sonnenstrahl beschien. Sie packte ihre Tupperwaredose aus und aß nacheinander zwei Karotten, eine Handvoll gewürfelte Ananas und einen halben geschnittenen Apfel – Frühstück und Mittagessen zugleich. Schon beim ersten Biss dachte sie an genussvollere Alternativen – an Sauerbraten, Hirschragout, Pizza, Kirschtorte und Mousse au Chocolat … Die angenehme Sonnenwärme und die Vitaminkost konnten dieses Schmachten nicht bändigen, genauso wenig wie die Gedanken an die verlorenen drei Kilos seit Diätbeginn. Das gesunde Mahl schmeckte zwar, sättigte aber kaum, sodass Rosi hungrig die leere Box zuklappte und wieder in ihre Tasche steckte. Sie legte die Hände in den Schoß, linste in das zarte Grün der Lindenblätter – und musste wieder an Kosmolla denken … an seine Gleichgültigkeit, Arroganz und Demütigungen. Sie sah sich um und erkannte seitlich des Platzes Hansi Flasskow, der mit ausholenden Armbewegungen robotergleich den Bürgersteig fegte, den Blick auf den Boden gerichtet. Plötzlich verebbte das rhythmische Kehrgeräusch und Rosi bemerkte, dass Hansi Flasskow wie hypnotisiert eine Frau betrachtete, die wenige Meter entfernt vor einem Hoftor von ihrem Rad stieg. Die Frau ignorierte Hansis Starren und sein freundliches „Guten Tag“ und schloss rasch das Tor auf. Ein kleiner dunklhaariger Hund stürmte bellend heraus und tanzte jaulend und mit wedelndem Schwanz vor der Radfahrerin auf und ab, dann drehte er sich zu Hansi und kläffte ihn an. Hansi ging der Frau einen Schritt entgegen und sagte noch einmal freundlich „Hallo, guten Tag“, doch statt zu antworten, winkte die Radlerin ab und rief: „Lass mich in Ruhe, du Trottel, und hau ab!“ Dem Hund befahl sie: „Komm, Nero!“
Nero rannte in den Hof, dann verschwand die Frau in der Hofeinfahrt und schlug das Tor zu.

(Ende des Kapitels)

*


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